Tagebuch 1982

Joachim Völkners Tagebuch wurde zwischen Januar und Oktober 1982 zu einer dichten Selbstanalyse. In den früheren Jahren waren seine Auf Zeichnungen eher privater Natur. Die Eintragungen, aus denen hier zitiert ist, lassen vermuten, daß er sie als eine literarische Form verstanden und mit dem Blick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben hat. Unsere Textauswahl umfaßt etwa drei Viertel des gesamten Manuskripts und berücksichtigt das Wesentliche. Die Texte wurden in ihrer sprachlichen Eigenart belassen, es wurden lediglich geringfügige orthographische Korrekturen vorgenommen.

11.1.1982 

Das totale Ich meiner Bilder ist noch nicht geboren. In mir deutschem Steinhirn ist eine hauchdünne Ader Fremdes, die noch nicht genug im Spiel ist. Der Kuckuck oder meine Urgroßväter wissen, wo das herkommt, slawisch, jüdisch, etwas romanisch? Oder oder oder, egal, jedenfalls sprudelt da etwas warmes Weiches klitzedünn durch den schwarzen Granit meines Kopfes und ruft nach starken Farben und Formen und Strukturen, nach eigener Form, nach allem, das meinen bisherigen Bildern bisher strengstens untersagt wurde. Nichts kommt flüssig, alles sehr quälend. Es ist dieser dekorative Schweinehund, den ich seit je in mir weiß und bekämpfe, dieser Lumpenkerl allein, ohne mich, ohne meinen Willen, würde wohl malen wie hun-dert-wässriger Klee. Aber dieser Spinner in mir, dieser naive Spieler muß unbedingt ins Spiel, sonst bleibt alles trockener intellektueller Staub. Dieses geistige Gepuder, diese Gedanken tragen noch andere in ihren Schädeln spazieren, es muß daher ganz und total mit meinen Mitteln gesagt werden, nur so hat es ein Recht und kommt in Betracht. Gute Nacht

16.1.1982 

Immer wieder anstinkend lustig. Der bedachtsam konstruierte intellektuelle Habitus, der Möchtegernboheme und einiger, die tatsächlich Profis sind. Was tun die da vor ihren Spiegeln? Drapieren an sich herum, basteln sich ein Außen, weil sie kein gemäßes Innen haben. Witzfiguren, die ernsthaft nachdenken, wie sie ihre Haare kämmen, ihre Barte bürsten, und die fernab von den guten Spiegeln ständig zu tun haben, ihr „Styling“ zu kontrollieren und bei Abweichungen sacht zu korrigieren. Ständiges Kulissenschieben, daß muß ein anstrengendes Theater sein. Das Dumme ist, daß sie klüger sein sollten als die übrige Scheinwelt und deren hohle Regeln.

17.1.1982 

Von früh bis spät Streichquartette, erstmals die von Bartok, dazu im Vergleich Schostakowitsch, danach Beethoven. Bartok scheint mir abstrakter, nicht so bildhaft, aber doch gewaltig. Muß alles noch öfter hören. Die Metaphorik des Karos oder ernsthafte Blödheiten über das Doofe der Dussligkeit. Das Dumme jeder Dämlichkeit ist das Beschränkte, das Begrenzte, das Nichtwissen eines Weiteren und das Maßgebende des Vorhandenen, die Dimension des kleinen Karos. Alle Denkformen, die anders gemustert sind als diese linienstrenge Kleinkariertheit, bleiben unbegreiflich, unermeßlich und ungültig für das eigene Treiben. Die Hohlräume dieser kleinen Karos sind schnell angefüllt, der winzigste Gedanke, das schmälste Gefühl, lassen die Wandungen umgehend bersten, so daß ein Eindruck eigener Fülle und Wichtigkeit ständig hervorzurufen ist. Ein klein bissel Wissen um die Möglichkeit der Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit grosszügiger Karoinnenmaße wäre solcher steten Abrufbereitschaft Selbstzufriedenheit abträglich, also sind derartige Forderungen als störend und überkandidelt vom Tisch zu wischen. Diese Klugscheißer sind doch alle Idioten, die sollen uns in Ruhe lassen …

18.1.1982 

Der Werdegang dieses J. V. ist der eines Spätzünders. Früher gezündet hätte dieser Glühfaden, in ihm sicher, hätte die Umwelt, in der er Kind war und Jugendlicher, ihm zu rechten Zeiten mehr davon angeboten, was ihm heute mit Anfang 30 Hauptsache ist. So aber mußte alles später erfahren werden. Auf den langen, doch guten Wegen der Selbsterkenntnis und des Eigenantriebes. Wie sehr ist doch ein Kind aufnahmebereit, wie groß sind die Augen und Ohren, die noch alles empfangen. Hier muß dem Kind alles angeboten werden, daß es damit später tun kann, was es will. Die wenigen Male, wo aus dem alten Radio der Familie V. klassische Musik tönte, waren eben zu wenig, als daß dem 10 jährigen J. diese Musik früher vertraut werden konnte als mit Mitte 20. Stattdessen hat er aus diesen Tagen noch immer nur Schlager und Vaters Sportnachrichten im Ohr. Mutter hatte doch einen kleinen Sinn für gute Musik und Bücher, aber als sie endlich Zeit dafür gehabt hätte, starb sie. Das klitzekleine Fundamentchen des halbstarken J. ist nur ihr zu verdanken. Oder Bilder. Wie aufmerksam beäugte dieser 10 jährige die paar goldgerahmten schlechten Stillebendrucke an der Wand, hätte dort auch nur ein Rembrandtbildchen gehangen, der junge J. V. hätte es früher gewußt. Ein Kirchenkalender des Jahres 62 hat sich ihm tief eingeprägt, darauf war ein Van-Gogh-Blumenstrauß. Einige Jahre später geriet diesem Jungen in sein Sammelsurium von Lackbildermünzen, Schnapsflaschenetiketten, neben allerlei anderen Reproduktionen, wiederum ein van Gogh in die Finger: Er guckte es sich öfter an als alles andere, den Grund wußte er nicht. Immer häufiger begann er zwischen seinen Spielen zu zeichnen, meist wußte er aber nicht, was. Das machte ihn stets äußerst wütend. Einmal zertrümmerte er dabei einen Tuschkasten, Bleistifte rammte er öfters in die Tischplatte, die bösen weißen Zeichenpapiere riß er in tausend Stücke. Als er zur Jugendweihe einen Kasten mit Künstlerfarben und 3 Pinseln bekam, fing er an, am Boden auf allerlei Stücken Pappe herumzuschmieren, aber auch hier: Was? So malte er bunte Postkarten ab, ägyptische Pyramiden, irgendwelche Landschaften, am liebsten Gewitter und stürmische Meere mit kleinen kämpfenden Booten. Gekämpft und gemordet wurde bei ihm stets viel, es gab immer Gut und Böse. Endlich malte er van Gogh ab, auch Spitzweg, jemand wünsche es sich zu Weihnachten. Hätte sich doch da einer gefunden, der sagt: male dein Spiegelbild, deine Hände, deine Füsse, male deine Welt. Wenn das geschehen wäre, hätte dieser J. V. zehn Jahre früher sich selbst gefunden und seine Bilder. Und hätte, hätte seine Tante 4 Räder, wärs ne Straßenbahn.

19.1.1982 

Heute viel Franz Marc, vorgestern war es August Macke. Es ist furchtbar, in unserem Alter zu krepieren Angefangen Kreuzabnahme. Das wird mich fordern, wie noch nie. Angst und Zuversicht.

20.1.1982 

Marc zu Ende. Seine Aufzeichnungen haben starke Stellen, wie er das Wort „Prädikat“ setzt, ist mir noch nicht eingefallen, das Prädikat des Subjekts, was wird ausgesagt. Nicht nur „der Mensch“, sondern „der Mensch fühlt“. Kunst braucht dieses Prädikat. Lied im Radio: Wohin soll die Nachtigall, wohin soll ich. Da fehlt was, sagt mir mein Gefühl. Ich mal meine Sehnsucht, ich bin unterwegs. Das ist es noch nicht, das Ziel. Abends, nach vielen Jahren, erstmals wieder Straßenmusikant gesehen, am Bahnhof, ein alter Mann spielt sehr schön Mundharmonika, neben sich eine Blechbüchse, wo die Groschen schön klimpern. Ja, wundert sich alles, gibts denn das? Nein! Erwartungsgemäß, nach Minuten, wälzt sich der dicke grüne Polizist heran, verlangt die Ausweispapiere und weist, mit ewiger Geste, den Mann zu verschwinden. Die Ordnung und die Sicherheit sind so wieder hergestellt, und so ward wieder Ruhe im Land. Schließlich: Musik auf der Straße ist nicht in Ordnung, Ordnung ist Grabesruhe, das hektische Rascheln leiser Sohlen, aber die Wege im rechten Winkel!

21.1.1982 

4 Stunden Kreuzabnahme. Mann! Mann! Die große russische Musik, sie hat etwas, das einmalig ist, das nur dort, nirgendwoanders ist: eine herrliche Trauer, ein großes erdverbundenes Pathos. Dieses Rußland muß man lieben, die tiefe Seele seiner Menschheit und seines weiten endlosen Landes sind etwas so Einzigartiges und seine beste Musik hat es. Wo viel Seele ist, ist viel Leid, und dieses tiefe menschliche Leiden ist fast in jedem Ton, auch im Scherzo, eine großartige Wehmut, immer ist gesunde Erde im Spiel. Vielleicht ist Schostakowitsch der letzte dieser großen Russen. Denn Europa mit seiner westlichen Konsumhektik und seinem östlichen lähmenden Bürokratismus wirkt sehr ein. Aber dieses Land ist stark und riesig, kann vielleicht gegenwirken. Ich bin nicht der erste, der von Rußland Gesundung erwartet, Europa ist krank, Amerika weint, (Rußland) hat seine Hände an der Erde, dort ist seine Heimat, sein Kraftquell, der Deutsche hat seine zitternden Hände am Kopf, da tut es ihm mehr weh als an den Sohlen. Seine Tragik ist, daß er die Schwerkraft der Erde, die an seinen Sohlen zieht, nicht überwinden kann, seine Füsse kleben dort, sind fest verwurzelt, aber sein Kopf, sein Geist ist in den Wolken zu Hause, bewegt sich im Kosmos, also ist er zerrissen. Sein Leib ist zwischen Himmel und Erde, und dieser Zustand prägt ihn, von oben, von unten, zerrt es an ihm, und sein Lebensraum ist dieses Spannungsfeld, eine Streckbank. Dort findet er weder Ruhe noch Glück, sein Riss, seine Geteiltheit, seine ewige Wunde, sein wunder Punkt gibt ihm ständig zu denken. Er muß das grübeln, über Himmel und Hölle, Idee und Wirklichkeit, Ja und Nein, über allen Gegensatz, alle Kausalität… Die Kunst, die da in diesem elektrischen Gehäus entsteht, hat dann eben das, und der Mensch, der sie macht, hat zu schaffen damit, daß er das weiß. In seinen Schwächen daher ist er sich selbst der größte Feind, also kämpft er zuerst mit sich, dann gegen das, was ihn, außer sich, bedrängt, und hier, bei Beschränkung, kann er der erbittertste Staatsfeind sein. Denn er hat, was ihn zum Riesen machen kann, er hat eine Idee und er steht auf dem Boden, er ist ein Mensch mit Prinzip. Hat er dazu den rechten Charakter, ist er nicht zu besiegen. Als Mythos heißt er Siegfried, eine Schale aus Drachenblut, das Eichenblatt lag auf dem Herzen, dort ist er zu treffen, als Musiker heißt er Beethoven. Dieses Gefühl, das sich da ausdrücken will, ist allen gemein, die dieser Gesinnung sind. Aber die Kraft ist nicht überall, so wird die Musik weicher. Mahler, Brückner seh ich da an einem Abgrund, sie stehen da kurz vor dem Sentimentalen, dem todbringenden Fall der deutschen Kunst. Die große erdige Trauer der Russen geht hier nicht, ebensowenig wie die luftige Freude der Franzosen, aber was geht, ist: der große Sinn lebendiger Dramatik. Abends Trakl und Schuberts letztes Streichquartett, äußerst stark.

22.1.1982 

Bei der Arbeit: wenn der Tag bald rum ist, sollte man mit Malen aufhören, solange man noch weiter weiß, die restliche Idee aufheben für den nächsten Tag. Nichts ist qualvoller, als ohne Idee einschlafen und aufwachen und weitermachen müssen und nicht wissen wie.

26.1.1982

Das Nebeneinander der anders gearteten europäischen Seelen fesselt mich mehr und mehr, vor allem das Warum. Warum bin ich als Deutscher so ein sonderbarer Vogel und so anders als die anderen Käuze um mich herum Was ist anders. Woher kommt was? Es konnte nur ein Grieche sein, der aus einer Handvoll Federn und Bienenwachs Flügel macht und davonfliegt. Der Deutsche, als flugunfähiger Ikarus, heißt Otto, er setzt sich auf seinen zerschundenen Hintern und denkt, dann erfindet er einen Motor und ein Flugzeug und eine Philosophie des Fliegens. Die einen singen, spielen, tanzen sich in Ekstase, der Deutsche denkt sich dahin.

27.1.1982 

Gewisse Bilder aus Filmen gehn mir nicht aus den Augen, z. B. die wackligen Dokumentaraufnahmen von Massenerschießungen polnischer Juden, die naive grinsende Frechheit der deutschen Soldaten, die aussehen wie Bekannte von der Straße, aber das Erschütterndste, dieses sonderbare Verhalten der Juden vor dem Todesschuß. Keiner läuft weg, verängstigt brav stehen sie in einer langen Reihe und warten, warten bis sie dran sind, dann treten sie folgsam vor ihren Mörder, bücken sich und schauen ihn an, ob sie auch alles recht machen. Ist das noch Hoffnung? Denkbar eine Geschichte, der Monolog eines Juden aus dieser Reihe, seine Gedanken in der Zeit des Wartens, alles, die Überraschung, die Angst, die Wut, wieder Angst, dann Glaube und immer Hoffnung nach dem Zweifel. Das Ende:… Mit folgsamen Schritten trat er nach vorn, jetzt erst konnte er in die Grube sehen, da lagen sie alle, doch tot. Aber ich nicht, dachte er, als dieser Mensch ihn grob stieß und etwas sagte, daß sicher heißen soll „Runter“! Ja, sie alle mußten das auch tun, also tat er es recht schnell und sah dabei diesen Menschen an, um zu fragen, ob es so recht getan sei. Denn wer sich so gehorsam und schön hinhockte, der wird gewiß nicht totgemacht werden, der wird weiterleben dürfen, ja leben, denn es muß doch weiter, das alles. In seinem Kopf formte sich sofort wieder das Bild seines Alltags, ehe diese Menschen kamen, er war bereit, diese sonderbare Störung zu vergessen, er wollte überlegen, ob er sich nicht wieder erheben solle, denn es müsse doch nun klar sein, daß er, Jacek, nicht tot wird, da schlug es krachend an seinen Hinterkopf und eine sehr kleine harte Eisenkugel brannte sich dorthin, wo er gerade gehofft hatte, und löschte alles aus, was soeben, nach dem Knall, eine große, große Enttäuschung werden

28.1.1982 

Wer 6 Stunden einen Gekreuzigten malt, der muß wohl zur siebenten Stunde, auf der Straße dann, etwas im Blick haben, das die Leute gucken läßt: ein Wahnsinniger? Manchmal gefährliche Müdigkeit, sollen die doch ihr Scheißspiel zu Ende spielen.

8.2.1982 

Brief an König Salomon. Anstatt Ihnen im Briefkasten zu liegen, könnte ich ebenso an Ihrer hohen Tür stehen. Sie besuchen, aber es ist eine dumme Sache, daß man Auge in Auge meist nicht die rechten Worte findet. Mir gehts insbesondere so, zudem weiß ich Ihre Hausnummer nicht. Was will ich: nicht Ihr Urteil, nur einen Rat. Für das „Gewisse“ der Kunst, das unerklärliche Soll des Bildermachens, das einen vorwärtsjagt, blind in die Richtung eines gefühlten ewigen Lichts, für eine Ahnung fand ich spät erst das rechte Wort: Mythos. Ich will nun nichts wiederholen, das wir beide schon wissen, nur: ist es gut, daß wir „es“ wissen? Sollte „es“ nicht erfühlt werden, anstatt erwußt? Sollte „es“ nicht von selbst „kommen“ anstatt gewollt zu werden? Ich weiß das wirklich nicht. Ich befürchte nur, daß ein Zuvielwissen um „es“, um die Dinge des Solls, den Künstler disqualifiziert, er rationalisiert seine Emotion zum Zwecke eines Zwecks. Einem Schriftsteller könnte es geschehen, daß er von da an nur noch Essays schreiben kann, Analyse statt Synthese, dachte ich, ehe ich Fühmanns Marsyas las, seinen großen Atem hörte. Da sah ich: es geht doch, man darf wissen. Die neue Frage: geht es vor allem dann? Halbwegs nicke ich mir da zu, zögernd, dann: darf der Künstler wirklich jede Sekunde seines Schaffens bei Bewußtsein sein? Ich denke, dem Wort kann die ständige Anwesenheit der Ratio und ihrer Kontrolle nicht schaden, das Wort, die Sprache ist ja geformter Geist. Aber wie ist das mit dem Bild? Ist das Kalkül, die Allmacht der Ratio hier nicht Gift? Angenommen: ich weiß also als Maler um die Sache des Mythos, jedes Bild, jedes Bildnis muß es in seinem Wesen haben, das Ewige, die Urseele des Menschen, den Urtyp.des Charakters des Abgebildeten, ich weiß, wie das sein muß, und ich weiß, wie man das macht, und, immer noch angenommen, kraft meines Ichs kann ich das, geht das? Oder muß ich das Gleiche schaffen als Unwissender, als Naiver, als einer, der ohne Bewußtsein, bewußtlos im Zustand des Rausches nicht genau weiß, was er malt? Zur wahren Kunst führt nur ein Weg, der ist verschlüsselt, liegt im Dunkeln, es gibt keinen anderen. Welcher Weg ist der richtige? Wahnsinnige Fragen, doch diese ist zu groß. Die Themen. Ich erlebe, daß viele meiner Kollegen einem weiteren Gift erliegen, dem Haß. Aller Unmut, wenn er nicht bedachtsam sublimiert wird, führt zu wenig durchdachten Re-Aktionen: Kunst wird billiger Racheakt anstatt Waffe. Fehlerhafte Gesellschaften waren schon immer ein Prüfstein der Künstler, alle Beschränkungen ein Nährboden, das Stärkste ist gefordert. Nur das Gute. Wahre Größe wird da bestehen. Nichts Kleines, das sich in Metaphern und Parabeln verheddert. Wie immer ist das rechte Maß verlangt. Alles übrige ist dem Verdruß, der Frustration nicht gewachsen, es hat kein Gegenmittel, es unterliegt. Das ist schlimm, denn es sind Menschen darunter, die sind guten Willens, es fehlt ihnen nur an Kraft, Kraft des Herzens und Kraft des Geistes. Was heute zu großer Kunst an Substanz gebraucht wird, ist eigentlich gigantisch, wer hat das? Aber es ist so, und der muß wissen, wer sich auf diesen Kampf einläßt. Doch das tönt zu emphatisch, Kunst ist nicht Freistilringen. Also zurück zur Sache des Mythos. Was ich dafür halte, kann ich nicht sagen, es ist eben Ahnung, etwas wie der Urgehalt eines Stoffes, sein STRASSENSZENE, 1981 öl auf Hartfaser, 65×88,5 cm, bez. verso: Mai 81 ewiges Licht, sein ewiger Schatten. Urseele, Archetypus, alles nur Worte, die Sache ist unbeschreiblich. Wer noch leise Funkverbindung hat zum Urigen, zum großen Alten, zum alten Großen, zum Gewordenen und Werden, wer sich also dem Urstoff verbunden fühlt, der weiß das, und nur der weiß, was Leben ist. Es sind die Zusammenhänge, das Gespür des Roten Fadens. Aber wer so weit gekommen ist, dem ist die große Antwort ferner denn je, es stellen sich neue Fragen. Eine: sind die Auswüchse unserer Phantasie, die bösen Gelüste in uns Reste eines Raubtieres, oder sind sie Vorstufe eines solchen? Wir wollen alles wissen, doch wir begreifen nichts, am wenigsten uns selbst. Das Mysterium der inneren Ratlosigkeit als Unruhe der pochenden Weltenuhr, es geht weiter. Wie lange hält die Sprache? Wann kommt die große Zeit der Bilder, Fragezeichen des Nachts an die Hauserwände?

9.2.1982 

Ich glaube, Schostakowitsch bringt neben der Tragik bewußt immer auch die andere Seite, die Komik, ins Spiel. Dieser Moment verändert dann das Hauptthema, zeigt seine Kehrseite, oder besser: zeigt eine andere Seite, ein anderes Licht, denn seine Komik ist immer doch tragisch. Bildlich ist es dann meist etwas wie Erinnerung, Jugendtraum, Illusion, Enttäuschung. Der absurde Witz des Lebens hat dann zwischen aller Schicksalsschwere seinen Raum.

10.2.1982 

Das Dumme ist, daß der Künstler doch einen Dank erwartet, und daß der Undank, der stattdessen als Haß sogar ihm entgegenschlägt, ihn tief trifft und traurig macht. Wofür Dank, tönt es da von der Straße? Und der Mann, der das sagt, hat für sich Recht, er weiß es nicht anders … Ja, es ist dumm zu suchen, wo noch nichts zu finden ist, aber es ist die Dummheit eines Kindes, das Lohn erwartet für die Entdeckung einer Gewitterwolke, einer Träne oder einer entfernten gelben Blume. Was weiß der Erwachsene von der Mühe des Kindes, seinen Kopf zu heben und zu schauen. Und wieder lacht es da hämisch von der Straße.

13.2.1982 

Jeden Tag gibts Minuten, wo ich im Wachen träume, ob ich auch jede Nacht im Schlafen träume, weiß ich nicht so recht, nach dem Erwachen erinnere ich mich selten. Oft ahne ich nur, daß Furchtbares vorgefallen sein muß, ich bin aufs Seltsamste erschüttert und beunruhigt. Die Tage sind dann davon gezeichnet, ich kann dagegen nichts tun. Letzte Nacht wieder bösen Traum, er ist nicht vergessen: Auf meinem Fensterbrett: eine Horde sonderbarer bunter Spatzen, ein oder zwei große schwarze darunter, überfallen ein Taubenpaar, stürzen sich auf eine davon und picken sie an, die andere Taube hüpft entsetzt hin und her, kann nicht helfen, ich seh ihr panisches Gesicht, den aufgerissenen stummschreienden Schnabel, die Überfallene Taube liegt ebenso entsetzt auf dem Rücken, die Füsse in die Luft gekrallt, ihr zuk-kender Körper hat ein großes blutrotes Loch, das Fleisch liegt frei, die bunten Vögel haben sie zur Hälfte ausgeweidet, zu spät kann ich die Mörder verjagen. Brief an Strittmatter. Habe eben Ihren dritten Wundertäter ausgelesen, bin sehr enttäuscht. Ich lese langsam, für 650 Seiten brauche ich 3 Wochen, nun ist es mir schade um die Zeit. Von einem Buch erwarte ich, daß es Kunst ist, ich will Sprache sehen und darin Größe, und ich will etwas dabei neu erfahren. Ich begreife nicht ganz, wie Sie zu dieser schwachen Form kommen. Von den meisten Ihrer Kollegen erwartet man nichts anderes, man läßt sie also links bzw. rechts liegen, aber wenn von einem der Besseren so Banales kommt, so verwunderts. Das Thema ist ja klar, im Grunde noch viel zu harmlos umschrieben, doch schärfer gehts ja nunmal hier und heut nicht, umso stärker, schlagender muß da die Form sein, der Ausdruck, die Sprache. Sie wissen es doch länger als ich, das wichtigste Thema allein trägt kein Werk. Ich wünschte mir vieles lakonischer, nicht diese „Eulenspiegel- Technik“, in jedem Satz möglichst zwei Pointen sowie leere, flach karikierte Charaktere. Ihr Büdner ist mir kein Mensch, er ist eine Unperson ohne Seele, ohne Strahlung, kein Fisch, kein Fleisch, eine solche Nullfigur kann doch nicht Träger eines Romans sein, er kann nur „Krücke“ sein, um „Frust“ abzuladen. Dieser Frust (ein irres Wort) ist für den Künstler sicher gefährlich, der muß ihm aber widerstehen, ihm etwas entge-gehalten: Gestaltung. Es geschieht, daß man diesem ewigen und doch neuen Wust von moralischem Müll nicht gewachsen ist, man wäre überwältigt, von Ärger darüber zerfressen. Als Künstler wäre man dem Gift erlegen und eine Notwehr ginge nur noch mit dem Spiegelprinzip. Aber statt Widerspiegelung muß es der Extrakt sein, der Kern der Dinge. (Ein gegenextremes Erliegen war da die überform, das Zuviel an Intellekt, der Überhang an Ratio, das Kalkül bei der Arbeit. Himmel, es ist ein Seiltanz). Das klingt zwar alles nach Insider-Phrase, doch das ändert nichts an der Wahrheit. Ungestaltet bleibt jede kritische Absicht ohne Belang, sie verpufft. Ich bin Maler, und der Fall ist beim Malen der gleiche. Ihr Buch als Bild seh ich vor mir: kritisches Thema, Büro, Wandzeitungen, darin färb- und seelenlose Figuren, lähmendes Grau, die Komposition, der Bau kraftlos, ungebildet. Aber die Masse steht davor und kichert und nickt, der Beifall der Menge ist verfänglich wie eine Leimrute. Bilder dieser Art habe ich vor Jahren „auch mal“ gemalt, sie sind aber inzwischen alle überpinselt (ich habs da leichter als Sie). Kunst darf nicht bloßer Racheakt sein, sondern Waffe, das war nur eine wichtige Erkenntnis. Aber eh ich hier weiter klugscheiße, mach ich lieber Schluß. Sie halten mich doch längst für einen großmäuligen, quatschköpfigen Wichtigtuer. Das ist auch gut so, man muß sich schützen. Zudem bin ich halb so alt wie Sie, und sollte mehr Respekt haben. Aber ich war eben einigermaßen sauer auf Sie, hätten wir uns an einer Bushaltestelle getroffen, würde ich Sie auch dort mit meinen Flüchen überschüttet haben. Fluchen soll ja gesund sein. Ich beneide Sie um den Frühling da draußen.

15.2.1982 

Trakls Briefe, was da zwischen seinen knappen kühlen Nachrichten mit ihm geschieht und was in plötzlichen heißen Sätzen aufglimmt und sogleich wieder erlischt, weil es ihm bis über die Augen steht und er es diesen dunklen Augenblick lang nicht im Griff hatte, das ist in leisen Ansätzen nur zu ahnen, von den Wenigen, die ihren Teil wissen, was es heißt, aus Schmerz, Bitterkeit und zweifelnder Hoffnung Verse oder Bilder zu machen.

20.2.1982 

Neues Buch, Albert Schweitzer, die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben. Das Rechte zur Zeit! Aber diese elende immerwährende Dämlichkeit, aus einem Fenster tönt es, eine Familienfeier, allmähliches Besoffensein und stundenlang im Chor: Adelheid, Adelheid schenk mir einen Gartenzwerg und dazwischen stets dieselbe Stimme: mit ner Zipfelmütze, ewiges blödes Kichern, dann böses Lachen und am Ende wie immer Gebrüll, Streit. Himmelnee, ich bin kein Menschenfeind, nur diese flache geistlose Lustigkeit „So ein Tag so wunderschön wie heute“, dieses heuchelnde Geschunkel von Menschen, die davor und danach wieder Wölfe sind, geht mir auf die Nerven. Ach du lieber Himmel, heute ist Karneval. Im Fernsehen walzen sich papierbemützte dicke Direktoren mit ihren fetten Frauen, es lebe die Fröhlichkeit, im Radio grölts. Aus! Aus! Aus! Stattdessen ein gutes Abendbrot, Beethovens dritte und fünfte,dazu ein Buch mit russischen Ikonen. Wenn, das nicht war.

22.2.1982 

Himmelmensch, bin gereizt wie eine Klapperschlange! Was ist los? Gestern, vorgestern wieder 22 Zeichnungen verbrannt, heute 12. Immer wieder schmeiß ich alte Sachen weg oder übermale, das redet mir keiner aus, alter Dreck muß weg, ist immer noch zuviel da, eigendlich alles. Abends 5 Stunden umsonst an „Nachtszene“.

9.3.1982 

Man steht an der Staffelei, malt, und im Kopf ist es nicht aufzuhalten, weiter an zwei Aufsätzen, einem Brief, Tagebuch, am letzten unfertigen Bild und am nächsten neuen, das noch nicht da ist, dazu die Gedanken in Büchern und Lüften und Tiefen, aber vor und nach allem die Sinne am Bild auf der Staffelei. Sätze, Bilder, Töne, Bilder, Sätze, Fetzen, Rauschen, Zerfetzen. Ich seh in der Kunst eine expressionistische Gotik kommen müssen. Die ideologischen Hysterien dieser Zeit haben diese Form, ein fanatisches Höherstreben, alle Menschlichkeit zerfasernd. Das schreit nach Ausdruck, Notwehr! Nervöse Striche, die angegriffenen Seelen der Gegenwart. Ein apokalyptisches Bildnis wäre zu malen: der Mensch, entwaffnet, wehrlos, vergewaltigt, sein Körper zu Streichholzdünne zerrieben. Ekstatische Hagelstürme, die Tage. Der alle elektrisierende Wettkampf der beiden heutigen Religionen führt auf den beteiligten Seiten zu ähnlichen Zwangsneurosen wie dies in der deutschen Zeit um 1400 geschah. Nur ist alle Naivität krepiert, Schuld ist da. Der liebe Gott ist in ein Stempelkissen gesperrt, der Beelzebub sitzt am Schreibtisch, telefoniert mit verstellter Stimme. Die Engel fahren mit Mopeds durch die Gänge, aktentragend. Und unten, vor den Toren, schlgen die Menschen sich die Parteibücher um die Ohren.

12.3.1982 

Lessing, dieser scharfe Hund, prügelt sich doch mit jedem Philister herum, wirft tatsächlich mit Felsbrocken nach Zwergen und schafft denen so himmelhohe Denkmäler, Heine sagt das gut. Aber ich begreif das, diese elende Wut jeden Tag auf diese ewigen Scheißer. Ich halte nichts von Nietzsches Worten „Dem würdigeren Feinde sollt Ihr Euch aufsparen“ usw., das hat schon seine gute Bedeutung, aber nicht als Alibi für den scheinheiligen Drückeberger. Mancher verbrauchte sein Leben im Warten auf den „würdigen Feind“ und krepierte als Verlierer.

13.3.1982 

Nervös, zum Zerreißen gespannt, nicht viel und ich zertrümmere. Hellichter Tag, Griff in die Bücher und im Knien fast nochmal gelesen, Lars Gustaffsons „Tod des Bienenzüchters“. Dann langer Blick in die Wolken, schwere graue ziehende Kumulus.

20.3.1982 

Herumgeschlagen auf Redaktionen, irrwitzige Gefechte mit hilflosen dressierten Chefredakteuren, wahrhaftigen Michels. Einer von diesen wagt es, aus 2 Seiten Text drei ihm genehme Sätze herauszusuchen und diese als „Aphorismen eines Malers“ drucken zu wollen, „dafür mit Reproduktion und später vielleicht Artikel“, recht süss der Speck. Doch die „Maus“ zieht von dannen, denkt sich: dann also das alles malen. 

10.4.1982 

Wenig Intensität jetzt in der Arbeit, zentimeterweise voran an angefangenen Bildern. Keine gute Zeit, diese Zeit.

14.4.1982 

Zu Ende gelesen, die jiddischen Geschichten. Wie sie techteln und mechteln, die Jidden, ich seh sie immer vor mir, sind mir sonderbar nahe, diese Brüder. Nichts ist trauriger als eine angetrocknete Palette.

17.4.1982 

Immer noch Flaute, die Segel hängen schlaff, ruhelos geht der Kapitän umher, vom Bug zum Heck, vom Heck zum Bug, doch nichts, keine Bewegung, kein Windchen, das Boot steht. Er weiß, er muß warten.

19.4.1982

In Windeseile gelesen, Gertrude Steins Autobiografie. Mist, dieser Klatsch macht sonst Laune, aber dieses dämliche Salongeschwätz einer übergeschnappten Amerikanerin kann man vergessen, aufgeblasen und hohl dieser Zahn.

20.4.1982 

Versuch mit Martin Walsers „Schwanenhaus“: Niete! kann wohl auch nur noch Essays machen. Es gibt eine Art Weinerlichkeit, vor der muß man auf der Hut sein. Große Lust daher an Arno Schmidt, ein frischer Geist dagegen, funkensprühende Form, trotz ähnlicher Verzweiflung.

25.4.1982 

Ganze Zeit Vincents Briefe, alles von ihm wieder intensiver im Auge.

26.4.1982 

Nichts kommt in der Arbeit, jeder Versuch geht auf rätselhafte Weise daneben, so als könnte man überhaupt nichts.

28.4.1982 

Starkes Gefühl, mit den Nerven am Ende zu sein, der Ausbruch lauert. Manchmal kaum noch in der Lage, die Zügel zu halten, ewige Dressur des Zusammenreißens verbraucht letzte Kraft am falschen Ort, das kotzige Schauspiel der Disziplin geht in die Binsen. Mancher wird mich bald für einen Idioten halten, macht nichts.

29.4. 1982 

Himmel, dieses hysterische Gejammer und dieser törichte Glaube an Besonderheit.

30. 4.1982

Früh in tiefer Niedergeschlagenheit auf die Straße, drei Stunden ohne Sinne durch Kälte und Regen. Warum verläuft man sich nicht, verschwindet irgendwo spurlos? Warum kehrt man immer wieder wie ein alter müder Gaul zurück in die alte mühsame Bahn, wo nach einigen Runden doch wieder der Fall kommt. Für die wenigen herrlichen Augenblicke, die kurzen glücklichen Momente des freien Fluges müssen wir wohl immer wieder büssen, auf alle Viere fallen und sterbenwollen. Also zurück, Blick in Vincents Augen, starker Kaffee, das gute alte Frühstück und Weiterlesen in Kleists Briefen, dazu Schostakowitsch Violinenkonzert, den 3. Satz öfters. Nach zwei Stunden weiter.

1.5.1982 

Was mich zerreißen könnte ist die Hülle von Eis, die seit gut 10 Jahren mich in ein Innen und Außen trennt und die ich nicht loswerden kann, jede innere Bewegung kann sich nicht befreien, prallt zurück und zerschlägt allmählich, das Außen ist dabei ohne Rührung. Doch diese Hüllen zerspringen irgendwann, die Spannung ist zu groß.

3.5.1982 

Dieser Tage zwei kleine Selbst, Strohhalme, heute ein größeres ziemlich und erstaunlich schnell und sehr weit, nicht so schlecht: In Erwartung des Risses.

20.5.1982 

Ja, der immerwährende Jubel der Idiotie des Vergessens: England und Argentinien schicken unter patriotischem Gejohle ihre Kriegsschiffe und Düsenbomber ins Spiel um ein paar steinige Klippen am Südpol. Tausende junge Männer müssen daran glauben, daß ihr Leben nichts wert ist, wenn es um Erdöl und Heringe geht. Das ist die Herrscherlogik. Und die Verteidigungsminister inszenieren jeden Tag eine Fernsehkonferenz, wo die Erfolge gemeldet werden und mit gesenkter Stimme eine Zahl der eigenen Toten. Zum Kotzen!

29.5.1982 

Nochmal gelesen „Homburg“, das wollte Kleist als Huldigung an Preußen. Es war ein Liebesdienst, es mußte endlich vorangehen mit ihm, er wollte es allen „zeigen“. Mit der eigenen Form hat man leben gelernt, aber der heimlich aggressive Druck der Umwelt, die dümmliche Erwartungshaltung der Familie, die nach ihren flachen kümmerlichen Normen endlich „Leistung“ erwartet, treibt den Andersgearteten in den Wahnsinn, oder in den Tod. Was Kleistens Halt gewaltig unterhöhlt haben wird, das waren die tiefen Erniedrigungen nach den leisen ruheversprechenden Versuchen des Arrangierens mit Staat und Hof. Keist wollte und brauchte diese Ruhe, etwas von sich hat er — ohne sich zu verleugnen — dafür vergeben müssen, im guten Glauben an einen Sinn und daran, daß auch der Hofstaat aus Menschen ist, doch er erhält dafür nicht das Geringste und erreichte noch weniger, eher wurde ihm etwas genommen: Stolz. Es war seine Selbstachtung, die um eben diesen Teil unheilbar litt. Damit ist nicht zu leben, wenn man ein Mensch ist wie er, aller Selbstbetrug geht nicht, die Scham bleibt und tötet.

2.6.1982 

Diese ewige marternde Gleichzeitigkeit von vielerlei Denken und Tunwollen. Im Kopf, im ganzen inneren Körper ist da ständig Bewegung, Unruhe, alles ist ein unaufhörliches glühendes Fieber, ein sonderbares Gefühl der Vorbereitung, als würde alles gleich und endlich „richtig“ beginnen, die Pläne endlich Tat werden. Ist dann eine Idee tatsächlich verwirklicht, tritt an ihre Stelle umgehend eine neue. Die erwartete Ruhe bleibt aus, der Nachfluß ist wohl endlos. Also bleibt das Fieber und brennt ohne Ende? Bis nur noch Asche ist?

20.6.1982 

Im Fernsehen: Allerlei haarsträubende Idiotien im Wechsel von Bild und Ton, sanft dämlich die gebürsteten Kommentare. Der ewigeTrick: Altes unter neuen Namen, also: neue Wilde, später: wilde Neue oder neue Alte oder alte Neue oder so. Das Traurige an diesem Lustspiel ist, daß jedem Wahren schon seineTendenz im Keim hervorgezerrt und umgehend vermarktet und so abgetötet wird. Die „neuen Wildheiten“ haben ihren guten Grund, aber Wirkung ist nicht möglich, die Manager haben alles im Griff, vorallem die „Wilden“ selbst, die sie gezähmt und abgerichtet in ihrem Rennstall halten.

22.6.1982 

Die hautlose Nacktheit des Fleisches, die der Künstler braucht, um das Klimakterium seiner Zeit aufs genauste zu spüren, alles geht ins Fleisch und Blut, der Körper selbst, seine Sensoren haben die präzise Frequenz des Geistes dieser Zeit, sie empfangen seine Schwingungen in aller Totalität und reagieren, reflektieren, spiegeln also wider, werden selbst zum Sender: der Künstler gibt so ein Bild zurück. Dabei ist er in seiner Blöße allem ausgesetzt und alles findet sein Echo in ihm. Denn alles ist in ihm, was auch außer ihm ist. Wie alles Gute also in ihm einen Spiegel hat, so hat auch alles Schlechte dort seine Reflektion. Alle Quellen von Gut und Schlecht sind so selbst erfahren und gewußt und die Gestaltung ihres Bildes kann überzeugen.

18.7.1982 

Das Fernsehinterview. Kamera läuft. Frage: Was können wir tun, um das kulturelle Leben unserer Jugend zu bereichern? Antwort: Zuerst sollte man hierzu einmal den Begriff Kultur klären. Kultur ist ja nicht nur die 5. Sinfonie von Beethoven zu Neujahr im Fernsehen oder die geschniegelte Folkloretanzgruppe zum 1. Mai oder der familiäre Ausstellungsbesuch am Sonntagnachmittag, Kultur ist, was sich auf der Straße abspielt, wie sich die Leute dort Guten Tag sagen, das ist Kultur. Und wenn man sich das eben etwas näher ansieht, vorausgesetzt man kann und will sehen, so stellt man wohl fest, daß da einiges nicht in Ordnung ist. Und für diese Unstimmigkeiten nun hat gerade die Jugend eine genaue Antenne, auf die jede Gesellschaft sich verlassen sollte, instinktiv spürt die Jugend, was vor sich geht und protestiert gegebenenfalls, reagiert mit einer ausgeprägten Antihaltung mit einer Art Gedankenkultur, die … (Frage:) Halt, Stopp, aus, aus, das war nicht meine Frage, ich glaube es hat keinen Sinn …! (So wörtlich und bildlich mit mir geschehen irgendwann im Mai oder Juni, aus Vergeßlichkeit erst jetzt aufgeschrieben).

17.8.1982 

Ginge doch das unentwegt bildermachende Hirn einmal auszuschalten, die Nerven zerreis sen, sonst. Das Tötende aber ist, daß die Kraft nicht da ist, alle Bilder umgehend zu gestalten. Also stockt der Fluß, alles staut sich und übt Druck aus. Denn aus dem Dunkel des Unbewußten fließt es ohne Unterbrechung, das Licht des Bewußtseins, die Idee, hat vieles davon schon ergriffen und läßt es leise Gestalt, Bild werden, wie seh ich es, im Dämmer zwischen ES und ICH. Aber es sind zu viele und ich bin zu oft ein erbärmlicher, armloser Waisenknabe. Doch dieser inneren Bilderflut nicht gewachsen sein heißt: der Kunst, dem Leben, allem nicht gewachsen und überwaÅNltigt sein. Nicht standhalten und der Welt nichts entgegenzusetzen können, das bedeutet: ich habe verloren.

19.8.1982 

Verdammt viel Kraft und Zeit gehen schon drauf, um gute Malgründe zu besorgen. Gute Leinwand ist zu teuer, Hartfaser in guter Qualität immer seltener, noch rarer sind brauchbare Holzleisten zum Verspannen, die nicht krumm und verzogen sind: große Bilder brauchen eine solide feste stabile Ebene, aber woher nehmen, wenn nicht mühsam selber basteln? Ich wünsche mir ein großes Vorratslager mit Flächen in allen Größen, dann ginge alles besser. Denn wenn ein Bild ausgekotzt wird, muß sofort eine passende Fläche dasein, zum Auffangen. Die Abende in letzter Zeit schlecht, wertvolle Zeit geht mir da verloren, es kommt nichts Brauchbares zustande, alles in mir ist zu unkonzentriert: keine Arbeit, kein Zeichnen, nicht mal Ruhe zum Lesen, nichts ist da von Nutzen. Da wünscht man sich manchmal doch die Bohemekneipe oder den größeren Kreis guter Freunde, wo man dann hinkann. Diese Isolation ist auf die Dauer schrecklich und kann einen vernichten: zu oft mit sich allein, ist man sich gefährlich. Aber sicher gehört das dazu und der Anspruch von Freundschaft und guten nutzbringenden Gesprächen ist sicher zu hoch, als daß man den inzüchtigen Dunst der Intellektuellen-Cafes atmen will. Und neue „Kontakte“ stellen sich schwierig.ein, der Zufall würde beansprucht, aber hier dann die Tragik: jeder ist zu sehr in sich selbst vergraben, die Schleusen, die er mühsam geschlossen hat, damit er nicht ersäuft im Brackwasser, die kann er so schnell nicht öffnen, wenn das Wasser plötzlich besser ist.

20. 8.1982

Erwische mich abends zu oft vor dem Fernsehapparat, aber manchmal lohnt der Blick durch dieses einzige Fensterchen zur „großen Welt“. Soeben: Gespräch zwischen Lili Palmer und Elisabeth Bergner. Sehr klug die Palmer, sehr intellektuell, etwas zuviel Absicht vielleicht, aber mit Herz, groß dafür die Bergner, eine, die es hat und daher absichtslos ist, wer sehen kann, der sieht es blitzartig zwischendurch und nebenbei: welche Tiefe, welch ungeheurer Reichtum an Persönlichkeit, welche Masse an Fühlen und Erleben. Ähnlich und daher auffallend war die Pauly, aber sie ist im hohen Alter fast verkümmert, der nötige ihr gemäße anregende Umkreis war nicht vorhanden. Ein Mensch mit kosmischen Horizonten unter kleinkarierten engen Stirnen geht zugrunde wie ein alter Baum, der sich krümmt und schließlich fällt, weil er nicht seinesgleichen neben sich hat.

3.9.1982

Ja, ich bin wohl eine Ketzernatur, ein närrischer Geist, und „leichter“ im Verwirklichen meiner selbst hätte ich es in einem System, das gänzlich verschieden war von meinem Ideal, ich wäre radikaler und könnte meinen Extremismus austoben: vielleicht würde ich Bomben werfen. So aber, in einer Gesellschaft lebend, die den Kommunismus zum Ziel hat, muß ich mich zähmen, muß ich meine Antihaltung beschränken auf die Kennmarken der Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit, auf das Manko zwischen Soll und Haben. Das Nichthaben der Gesellschaft also ist mein Zielgebiet, und den Verschuldern des ewigen Fehlbetrages, den Fälschern der Idee, den Sachwaltern und Handlangern einer parasitären Machthabung und deren entwickelter Mechanismen, einer pathologischen Bürokratie, gilt mein ganzer Haß, denn hier gerät alles Menschliche unter die Räder. Die Realisierung einer Menschengemeinschaft, die das Ich mit dem Wir ersetzt, Kommunismus also anstatt Egoismus, ist mein Ideal. Die in mir lauernde geistige Militanz zur Bekämpfung aller Reaktion und Regression erfährt Bestärkung in den Methoden der materialistischen Dialektik, die kritische Motorik bekommt hier das nötige ideologische Fundament und den kürzesten Schußwinkel: die Personifikationen des „nichtantagonistischen“ Widerspruchs laufen von selbst in meine Pinsel …

1.10.1982

Sehr geehrtes Tagebuch, bitte entschuldigen Sie vielmals meine augenblickliche Fremdheit, ich sehe Sie jeden Tag, aus großer Entfernung erinnere ich mich unserer einstigen Nähe und bin ergriffen von meiner Stummheit. Der Kopf rast, glauben Sie mir, gern würde ich einige Worte davon sagen, aber es verschlägt mir die Sprache: ich kann mein Denken nicht fassen, zu schnell und zu vieles schießt mir durchs Hirn, es ist nicht aufzuhalten, ich schaue nur hinterher, die Schultern hängen, dann vergesse ich. Das Aufschreiben ist schwer, zudem geschieht es mehr und mehr, daß frühere Sätze mich aufregen: mancher meint, der Druck in seinem Kopf komme von der Dornenkrone, dabei hat die Natter Hybris den Schädel in ihren Stricken. Ja ich mißtraue mir und tu mir dabei weh. Sonst gehts mir danke, die Bilder machen sich, Bücher liegen geöffnet herum, Musik ist im Raum, und ich harre dem Wahnsinn, an der Tür klopft es, ich mache nicht auf.

8.10.1982

Nachtsam schwarzen Himmel das leise Schwingen der Wildgänse und ihre Schreie. Das jährliche Zeichen für mich, etwas von mir flieht mit.

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