Matthias Flügge
Katalog „Joachim Völkner“, 1987

JOACHIM VÖLKNER: „Ich werde mich nicht abfinden mit dieser ewigen Kluft zwischen Kunst und Straße. Sicher ist es geruhsamer, diesen Abgrund als gegeben und unabänderlich anzusehen, das Akzeptieren des Unüberbrückbaren bedeutet aber Abkopplung, Rückzug nach oben, in den Turm. Das ist nicht mein Weg.“
Sein ästhetisches Credo steht in seinen Texten. Für ihn hat es niemand formuliert. Es könnte wohl auch niemand besser.

Als Joachim Völkner am 10. 2. 1986, 36jährig starb, blieben diese Texte, etwa 100 Gemälde und ein Schrank voll Zeichnungen. All die hehren Vokabeln, die sich aufdrängten, wollten nicht passen. Völkner war nicht „früh vollendet“, auch wurde er nicht „mitten aus der Arbeit gerissen“. Er war eine tragisch disponierte Natur, seine Rastlosigkeit, ein mitunter unversöhnlicher moralischer Rigorismus, den er ebenso gegen sich selbst kehrte, rücksichtslos die eigenen Kräfte ausbeutend, mögen einer Ahnung gefolgt sein. Er hatte keine Zeit zur Geduld. Am 11.3. 1982 notiert er ins Tagebuch: „Meine letzten Arbeiten sind gezeichnet von sonderbarer Eile, als würde mir die Zeit knapp.“ Noch gut drei Jahre blieben, bis ihn die Krankheit einholte.

1977 sah er Gerhard Kettners Zeichnungen der Mutter auf dem Totenbett. Spontan schrieb der sonst so Kritische einen Brief: „Die Porträts sind ungefähr das, was ich mit meinem Bleistift einmal erreichen will, Gesichter, die eine Seele haben…“ Und er versäumte nicht, dem ehemaligen Rektor der Dresdener Kunsthochschule mitzuteilen: „Ich bin Autodidakt. Ich habe nicht studiert, ich wollte es auch nicht.“ Daraus spricht ein gewisser Stolz auf eine heutigentags fast schon außergewöhnliche Künstlerbiographie. Der Lebenslauf gibt keine Auskunft, was den im proletarischen Milieu des Prenzlauer Berges Aufgewachsenen zur Kunst bewogen haben mag. Der euphemistisch sogenannte „Montparnasse“ der Berliner Malerei der 60er Jahre war es gewiß nicht. Eher spielte wohl Instinkt eine Rolle und der Wunsch, die frühen Erfahrungen uneingelöster Ansprüche auszudrücken, die ein hellwacher Sinn für die Dialektik des Sozialen und des Individuellen gemacht hatte. Daraus resultierte ein starkes Verantwortungsgefühl. Den seinerzeit vielgebrauchten Begriff der „Menschengemeinschaft“ nahm Völkner sehr ernst, nur daß er diese als längst noch nicht erreicht ansah. Die Beobachtung bestätigte das: Nirgends anderswo traten soziale Probleme und Differenzierungen so deutlich zutage, wie dort, wo Joachim Völkner seine Kindheit und Jugend verbrachte. Er lernte, den Prenzlauer Berg „von unten“ zu sehen; das behütete vor falscher Romantik. Die Stadtlandschaft, deren Darstellung sich leitmotivisch durch die Berliner Malerei der vergangenen zwei Jahrzehnte zieht, hat den Künstler nie interessiert. Sie war ihm kaum mehr als selbstverständliche Kulisse seelischer Aktion, auf die es einzig ankam.

Die Anfänge waren bescheiden. Kaum daß die Museen nennenswert als Bildungserlebnis in Betracht kamen. Zufällig gefundene Van-Gogh-Reproduktionen, klassische Musik aus dem Radio; bruchstückhaft vermittelte Medienkultur war wichtiger als die belanglose Kunsterziehung in der Schule. Im Grunde war dies ein proletarischer Lebenslauf mit allen Problemen der Orientierung, allen Schwierigkeiten der Selbstfindung als künstlerisches Subjekt, aber auch mit der unschätzbaren Freiheit von der ästhetischen Konvention. Kunst war ihm nichts Lernbares; er begriff sie als Ziel seiner Lebenstätigkeit, nicht als deren Produkt. Wären die Verhältnisse nicht inkommensurabel, man müsste diesen Werdegang mit Otto Nagel vergleichen. Die abgebrochene Autoschlosserlehre paßt ebenso ins Bild wie der zaghafte Annäherungsversuch an die Kunst durch Plakatmalerausbildung bei der DEWAG. All dies ging spurlos vorbei, hielt aber den Horizont offen für Völkners eigentliche Kulturerfahrung – die Literatur. Er teilte die Tageszeiten nach den Büchern, die er las. Aus wahllos suchender Lektüre kristallisierte sich alsbald das Wesentliche heraus: Kleist, Hölderlin, Dostojewski, Kafka, TrakI – man vergegenwärtige sich ihre Schicksale. Wie ein Leitbild blieb die menschliche Integrität der Rosa Luxemburg bestimmend. Hinzu kam die Liebe zur Musik, die ihm zwischen Schubert und Schönberg unerahnte Entdeckungen bescherte. Die Vorbilder der Außergewöhnlichen, zwanghaft Kreativen, einem kategorischen Imperativ Folgenden halfen ihm, die schmerzlich empfundene Gewöhnlichkeit der eigenen Existenz zu überwinden. Die Ansprüche jedoch, die daraus an das aufzubauende Werk erwuchsen, ließen die Spannungen, unter denen der Maler produzierte, zuweilen eskalieren. Immer wieder übermalte und vernichtete er für ungenügend befundene Arbeiten, den sich wandelnden, stets als absolut betrachteten Kriterien fiel manches Zeugnis zum Opfer. So sind aus den Anfängen nur wenige Bilder erhalten, Wegmarken aus dem Dilettantismus. Und doch ist in ihnen schon der Drang zur Obersteigerung. Nichts gilt der schöne Schein; es sei denn als Verlockung, der zu widerstehen ist. Ein Beispiel: „Das Frühstück“. Der ermüdete Arbeiter am Tisch, grau die Atmosphäre, ein Bild resignativer Ermattung in spätestnaturalistischem Geist. Daß diese Reduktion auf eine vorgewußte „Aussage“ in die Sackgasse führen mußte, weil die kritische Idee so eindimensional sich nicht zum Bild formen ließ, war dem Maler bald deutlich geworden. Vor allem stellten sich die sozialen Fragen auf dem Boden des Sozialismus ungleich differenzierter. Daß sein Prenzlauer Berg sich von dem der Kollwitz oder Nagels Wedding grundlegend unterscheidet, war Völkners tiefe Überzeugung. Gerade deshalb leistete er sich seine Utopien und hatte eine gelegentlich anarchische Lust an dem, was er seine „Ketzernatur“ nannte. Zufriedenheit, meinte er, sei kunstfeindlich, Zynismus rief gar seinen Hass hervor, und auf Ironie reagierte er meist verständnislos Moralisten ungeratener Bruder ist der Eiferer. Daher kam die Einsicht:,,…in einer Gesellschaft lebend, die den Kommunismus zum Ziel hat …………… , muss ich meine Antihaltung beschränken auf die…Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit, auf das Manko zwischen Soll und Haben.“ Und klarsichtig schrieb er weiter: „Die in mir lauernde geistige Militanz zur Bekämpfung aller Reaktion und Regres sion erfährt Bestärkung in den Methoden der materialistischen Dialektik, die kritische Motorik bekommt hier das nötige ideologische Fundament und den kürzesten Schusswinkel: die Personifikationen des ’nichtantagonistischen‘ Widerspruchs laufen von selbst in meine Pinsel.“ Dieser Ansatz ist weitaus optimistischer als die Bilder oftmals zu erkennen geben, wenn sie aus „Schmerz, Bitterkeit und zweifelnder Hoffnung“ gemacht sind.

In den Kinderbildnissen der ausgehenden siebziger Jahre erreichte Joachim Völkners Kunst einen ersten Höhepunkt. Er arbeite damals als Kindergartenhelfer. Das war mehr als finanzielle Absicherung auf dem Weg zum freiberuflichen Maler. Hier fand seine Überzeugung von der gesellschaftlichen Nützlichkeit der Kunst eine unmittelbar praktische Entsprechung. In diesen Kindern sah er eine größere als nur „zweifelnde“ Hoffnung und zugleich sein Sinnbild einer zukunftsorientierten Sozietät. Das, was er an Befunden der Einsamkeit, fahlem Widerschein grauer Mauern und virtuellem Unglück in diese Porträts legte, war einer ständig am Ideal gemessenen Erfahrung geschuldet. 1975 hatte die Malerin Heidrun Hegewald mit dem Gemälde „Mein Ball“ das Thema gestörter Familienbeziehungen erstmals in der Berliner Kunst diskussionsfähig gemacht und auf anekdotisch dramatisierte Weise einen Nerv der Betrachter getroffen. Völkner versuchte nun den psychologisierenden künstlerischen Gegenentwurf, der das Unerfülltsein kindlicher Ansprüche in schweigendmitteilsamen Köpfen ausdrückte. Die Malerei ist pastos, in mit kurzer Pinsel-spur aufgetragenden Farben entfaltet sich ein auratisches Leuchten. Völkner gibt das Kind als Individuum und zugleich dessen Mythos unverstellter Emotion. Die zehrende Suche des Malers nach dem Unverbildeten, Lebens- und Seelenvollen, nach den Kaspar-Hauser-Naturen ebenso wie nach Gleichgesinnten prägt sein Porträtschaffen über die Kinderbildnisse hinaus. Wo sie erfolglos blieb, hielt er seine Deutungen in Idealporträts fest, etwa von Dostojewski oder Beuys. Sehr gern wäre er Franz Fühmann begegnet, doch der bat ihn per Brief „herzlich, nicht an meine Tür zu klopfen“, da ihm die Arbeit vorging. So malte Völkner zwei Bildnisse dieses Mannes, den er für die wichtigste moralische Instanz unter den Schriftstellern des Landes hielt, aus der Ferne, nach selbst in öffentlichen Veranstaltungen aufgenommenen Fotografien. Für Völkner waren dies auch „Idealporträts“ eines mahnenden Gewissens. Wiewohl sie aus der Beobachtung entstanden, ist eine zitternde Ergriffenheit, eine leidvolle Hypersensibilität darin, die eine Projektion von des Malers Selbstgefühl ist und den einzelnen Menschen fast schon überfordert. Vor allem Fühmanns Erinnerungsarbeit an der deutschen Vergangenheit schien Völkner unersetzbar. Die eigene Lebensmaxime, keinen Abstand zuzulassen, alle Beunruhigungen auf sich zu nehmen und auszutragen, hat ihm als Nachgeborenem die faschistische Barbarei als permanentes Menetekel vergegenwärtigt. Dabei bedeutete ihm Vergangenheitsbewältigung unbedingt Verantwortung für die Gegenwart. Malen konnte und wollte er nur das selbst Erfahrene. Auf die Zuspitzung der weltpolitischen Widersprüche am Beginn dieses Jahrzehnts, auf die Diktaturen Lateinamerikas, das neue Selbstbewusstsein der Reaktion in den USA reagierte Völkner im Tagebuch analytisch scharfblickend und bildnerisch als „Menschensucher“: Wieder waren es Porträts von solchen, die sich selbst behaupten, noch in der Verletzung Würde bewahren. Vordergründige politische Etikettierungen blieben somit außerhalb. Völkner steigerte seine Köpfe ins Expressive, überlängungen der anatomischen Formen, hypertrophierte Sinnesorgane, gestalterische Konzentration auf die Augenpartien – so treten uns die Porträtierten in einer schutzlosen Direktheit gegenüber. Die Malerei bleibt bewusst „unperfekt“, nichts soll sich hinter Firnissen verbergen. Manches erinnert schon an den ;,Schmerzensmann“ der spätgotischen Tradition, ist personifiziertes Leid. Wer dies mit realer Abbildhaftigkeit verwechselt, missversteht Völkners Absicht. Sein Glauben an die Kraft und letztliche Siegesfähigkeit des Humanen war trotz aller Irritationen von Bestand. Er trug fast schon religiöse Züge und suchte nach adäquaten Formen. Völkners ethische Ideen von dem einzelnen und der Gemeinschaft gingen dann auch an die Quellen des Thomas von Aquin zurück. Als Atheist dachte er über die Korrespondenzen der „Großen Hoffnung“ des Christentums und der des Marxismus nach, die Konrad Farner in seinen späten Schriften analysiert hat. Von daher mag die „geheime Gotik“ seiner Bilder rühren. Worringer beschreibt die gotische Form analog dem scholastischen Denken als „Transzendentalismus, der, einem ungeläuterten und ungeklärten Dualismus entspringend, nur in hysterischen Affektzuständen, in krampfartigen Steigerungen, in pathetischen Überspannungen Befriedigung und Erlösung finden kann.“ Und Völkner schreibt: „Ich sehe in der Kunst eine expressionistische Gotik kommen. Die ideologischen Hysterien der Zeit haben diese Form, ein fanatisches Höherstreben, alle Menschlichkeit zerfasernd. Das schreit nach Ausdruck, Notwehr! Nervöse Striche, die angegriffenen Seelen der Gegenwart. Ein apokalyptisches Bildnis wäre zu malen: der Mensch, entwaffnet, wehrlos, vergewaltigt, sein Körper zu Streichholzdünne zerrieben Ekstatische Hagelstürme, die Tage.“

Aber nicht immer halten die Bilder solchen Emotionen stand, Völkners Form erweist sich dann als über die Maßen beansprucht. Der Skeptiker in ihm registrierte diese Kluft sehr genau, und der Maler suchte sie im Inhaltlichen zu kompensieren. Schon von den Kinderbildnissen führt eine Linie zu narrativen Bildauffassungen. 1981 stellte Völkner in der Berliner Bezirkskunstausstellung eine Kindergruppe inmitten verschachtelter Hinterhofwände aus. Es war sein Debüt im Künstlerverband, dem er seit 1980 angehörte, und wurde kaum zur Kenntnis genommen. Fortan beschäftigten ihn literarisie-rende Kompositionen in immer stärkerem Maße. Das Bemühen, außerhalb der gängigen Mythosadaptionen der DDR-Kunst eine Form zu finden, die vor allem biblische Stoffe in bedrängender Aktualität darzustellen imstande ist, riss ihn in die Obsessionen seiner letzten Lebensjahre. Die zielsichere Geste war ihm, dem scheinbar so Bestimmten, suspekt – Malen bedeutete nun noch intensivere Arbeit bis an die Grenze des Erschöpftseins mit allen den Qualen und Erniedrigungen aus dem Gefühl, das Zu-Sagende letztlich nicht sagen zu können, und auch mit den seltenen Höhen und Euphorien, die Geglücktes begleiten.
Gleichzeitig begann der Maler, seine Ideen und Gedanken in Form von Aphorismen und Kurzgeschichten niederzulegen. Diese Fragment gebliebene literarische Arbeit trat nicht konfliktlos neben die bildkünstlerische: „Zu Zeiten, wo ich nicht male, hat der Denker in mir die Oberhand; der Künstler sitzt dann in der Ecke und lauert. Die beiden verstehen sich übrigens überhaupt nicht.“ In verschiedenen Abhandlungen, mit denen er in Redaktionen nur selten Glück hatte, formulierte Völkner seine Vorstellungen von der Malerei. Künstlertheorien wurden ihm zunehmend wichtiger. Die Wahl der Stilmittel folgte einem Programm, dessen Konturen immer schärfer wurden. Es scheint, als strebte er eine Synthese der bedeutungsschweren Innerlichkeit altdeutscher Malerei mit Kokoschkas sinnlicher Erregtheit und dem Hintergründigen Beckmanns an – transponiert in die scheinbar alltägliche Szenerie des Heute. Die immer häufiger auftauchenden gesichtslosen Männer mit den hängenden Krawatten, eingeschnürt in ein Jackett in das willig angenommene Bett des Prokrustes, sind eine Zeitlang die Vokabel für eine impotente Seelenlosigkeit, die redet, richtet, (ver)urteilt oder schlicht im Wege steht. Sie sind Täter und Opfer in einem, richten Jesus Christus das Kreuz an einer Straßenecke auf, verhöhnen die barmherzige Geste der Veronika, bleiben unberührt von Davids Musik, obwohl doch dieser schon die Trommel schlägt statt der lieblichen Harfe. Diese Arbeiten behandeln das Thema einer zur Existenzform gewordenen Gleichgültigkeit. Völkners Kritik ist auf Verhaltensweisen des einzelnen gerichtet und auf ihre Sanktionierung, auf die Abstumpfung durch nivellierende Informationsfülle der Alltagsbilder und den Verlust an Kultur des Umgangs miteinander. Auch wollte er einen gefährlichen Mangel an Nachdenklichkeit und Perspektiven formendem Geist konstatieren und fand aufklärerische Bilder voller bisweilen surreal anmutender Gegensätzlichkeiten. Er lässt die Prinzipien hart aufeinanderstoßen; nicht Schönheit soll evoziert werden, sondern Betroffenheit und damit Katharsis. Die Erkenntnis, dass auch seine Bilder „nur“ Bilder in einem bestimmten Gefüge des Gebrauchs sind, schuf neue Selbstzweifel. Schon Franz Fühmann hatte mit sanftem Understatement des jungen Malers Hang zur Überschätzung solcher kathartischen Möglichkeit gebremst: „ Sie scheinen meine Arbeiten auch insofern misszuverstehen, dass Sie darin Forderungen sehen, denen man in der Praxis nachkommen müsse – nichts liegt mir ferner.“ (Brief des Schriftstellers an J. Völkner vom 29. 5. 81)

Malerei als Beitrag zur Setzung ethischer Normen, der hohe Impetus der Aufklärung: Es sollte nicht übersehen werden, dass Joachim Völkner sich damit auch in einen bewussten Widerspruch zu einem großen Teil seiner Generation begab, der seinen Chiliasmus nicht teilte und dessen am Beginn der achtziger Jahre auflodernder neuer Expressionismus in seiner radikalen Subjektivität gänzlich anderer Natur war. Andererseits sah er die Worte der Kollwitz: „Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind…“, nur halb zitiert, zu „Asche im Mund“ zerfallen und oftmals zur Rechtfertigung opportunistischen Mittelmaßes missbraucht. In den Tagebüchern der Kollwitz fand er immer wieder Bestätigung seines Weges. Sie war-das Vorbild seiner Zeichenkunst und gewiss auch seiner Selbstporträts. Diese ausnahmslos kleinformatigen Bildnisse zeigen die äußere Anspannung der Person zwischen Selbstbewusstsein, Schmerz und mönchischer Zucht: Dieser will nicht teilnehmen am Tanz um das goldene Kalb. Es gibt eine unfertige Kreuzigungsszene, worauf Christus selbstbildnishafte Züge trägt. Der Hintergrund des Ecce Homo in den Selbstporträts ist unübersehbar. Vielleicht sind auch sie schon in einer Todesahnung entstanden.

In den Selbstbildnissen der Jahre 1983 und 1984 kündigt sich zudem ein Stilwandel an. Die eschatologischen Fragen, die ihn bewegten, hatten zu einer Auseinandersetzung mit dem latenten Pessimismus geführt, den er in und um sich spürte. Es ging um dessen Überwindung, und Völkner fürchtete darüber hinaus, von den falschen Leuten vereinnahmt zu werden und seine Kunst als Vorwand untätigen Missmuts verbraucht zu sehen. Darum wollte er deutlicher werden, rücksichtsloser in der Form und ging in seinen späten Bildern den Weg der Verknappung. Die Metaphern werden bündiger, der malerische Aufbau von Figur und Raum zurückgenommen zugunsten einer Umrissbetontheit mit der Tendenz zu kräftiger, bedeutungssteigernder Farbigkeit. Trotz aller Überhöhung war den Bildern bisher ein Rest von Genrehaftigkeit geblieben, den der Maler nun im Geiste Beckmanns tilgen wollte. Sicher hat die diskussionsreiche Freundschaft mit dem jüngeren Maler Trakia Wendisch diesen Ausdruckswandel mit befördert. Völkner reduzierte das Arsenal seiner Figuren, befreite sie von Attributen, unterzog sie nochmals einer expressiven Steigerung. Spitzwinklig stoßen Körper gegen Körper und die meist engen Räume.
In dem Gemälde „Vorhof“ findet Völkner dann den Ausgleich zwischen der Erregtheit und dem Gestaltbaren. Diese höchst vielschichtige Adaption des Themas der verlorenen Unschuld wird seine letzte und zugleich wichtigste abgeschlossenen Arbeit; kein die Nachwelt bedrängendes Vermächtnis, aber ein sehr eigenständiger Beitrag zu einem in Bildern philosophierenden Realismus der Aufforderung zur Verbesserung der Welt. 

NACHSATZ. Ich habe an dem Abend, als ich die Nachricht von seinem Tode erhielt, wieder in Kafkas Tagebüchern gelesen. Es war wohl Joachim Völkners wichtigstes Buch der letzten Zeit. Dort steht unter dem Stichwort „Standfestigkeit“ eine zentrale persönliche Wahrheit Kafkas, von der ich glaube, so oder so ähnlich könnte auch Joachim Völkners innerster Arbeitsantrieb beschaffen gewesen sein. Kafka schreibt: „Ich will mich nicht auf bestimmte Weise entwickeln, ich will auf einen anderen Platz, das ist in Wahrheit jenes ‚Nach-einem-anderen-Stern-Wollen‘; es würde mir genügen, knapp neben mir zu stehen, es würde mir genügen, den Platz, auf dem ich stehe, als einen anderen erfassen zu können.“ Vielleicht ist hier die gleichsam metaphysische Seite von Völkners tief in sozialer Verantwortung wurzelndem Realismus beschrieben.

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