Joachim Völkner
Jakob , um 1982

Still und ohne jede Bewegung, als wäre er schon immer ein Baum, stand Jakob jetzt den dritten Tag mit ausgebreiteten, seltsam verbogenen Armen an der Stelle, wo vor unzähligen Jahren die letzte der Linden gestürzt war, und wurde mehr und mehr zu einem Ärgernis, denn die Menschen der Straße, die nach ihren verlorengeglaubten Vorteilen suchten, mußten einen mühsamen Augenblick lang um ihn herumgehen, wozu der große Plan ihnen das Recht vorenthielt. Die Herren, die, nachdem sie endlich gerufen wurden, seine Kennzahl in den Funk gaben und aus der Ferne sein Treiben weitere drei Tage genauestens beobachteten, mußten schließlich auch ihn eine Handbreit über dem Boden absägen, damit die Stelle frei werde für ein nachtblaues Auto, in dem Männer saßen, die durch verdunkelte Gläser hindurch Ausschau hielten nach Bäumen, die plötzlich, von einer Minute zur anderen, kämen, um still und regungslos zu verharren an Stellen, die gedacht sind zur Aufstellung weiterer achtäu-giger dunkler Wagen. Dabei hatten schon die Vögel begonnen, in Jakobs Zweigen ihre Nester zu bauen, von den Hajden außerhalb der Stadt waren sie gekommen, um über ihm zu wohnen und ihre ermüdeten Flügel in seinem Atem zu wärmen. Und Jakob ließ sie gewähren, auf seinen blutenden Beinstümpfen nun gehend, trug er sie behutsam durch die tobenden Straßen, auf der Suche nach Spuren früheren Lichtes und der Ruhe, die nötig wäre, die Nachricht zu hören.

Denn Jakob war gewiß, die Vögel würden es erfahren haben, und als eine grausame Last, die jedes Davonfliegen unmöglich machte, trügen sie es nun in sich; dieses einzige Wort, die letzten der schwarzen Bäume hätten, bevor sie sich unwiederbringlich zu Tode stürzten, es ihnen berichtet: die große Antwort, nach deren Auffinden alle Welt sich in Stücke reißt, in der letzten Minute ihrer Aufrechtigkeit wäre es in den sterbenden Wipfeln zu vernehmen gewesen, ein mehrsilbiges Rauschen, kaum hörbar, und die wenigen diese Zeit überlebenden Vögel, die wie immer in dem brüchigen Geäst ausruhten, würden es verstanden und darauf die Stadt verlassen haben und mit ihnen wäre das Wort. Jetzt aber, da die Vögel Kunde erhielten von Jakob, und längst wußten, daß auch ihre Tage gezählt sind, hatten sie also die karstigen Halden verlassen und waren, nach schwerlichem Flug, zurückgekehrt in die steinernen Schluchten, um in Jakobs Zweigen zu sterben. Von den wenigen Eiern, die sie mit ihren verbliebenen Kräften zu behüten suchten, fielen die meisten, als man Jakob immer wieder stieß, auf die Härte des Bodens und offenbarten so ihre Leere. Nur eines war übrig, aus reinem Weiß lag es schwankend über Jakobs Kopf, und, nachdem der letzte der Vögel tot und einem Papierdrachen gleich aus dem Nest in einen scharfen Wind fiel, der ihn endlich zu den Wolken hob, war es wie ein einziges Leuchten inmitten des finsteren Schweigens, und Jakob machte aus seinen Zweigen eine schützende Hülle, und, da alles Gehen ihm immer noch schwerfiel, waren seine schmerzenden Schritte von großer Sicherheit, so verließ er die Stadt und ging, seinen pochenden Schatz über sich haltend und ihn in seinem Hauch vor der Kälte bewahrend, endlich den Weg, der hinausführte und dessen samtweicher Boden Tage später noch eine Spur trug, die deutlich genug war, daß ein verdunkelter Wagen sich von seinem Platz lösen konnte, um ihr lautlos zu folgen.

Cookie-Einstellungen
Auf dieser Website werden Cookie verwendet. Diese werden für den Betrieb der Website benötigt oder helfen uns dabei, die Website zu verbessern.
Alle Cookies zulassen
Auswahl speichern
Individuelle Einstellungen
Individuelle Einstellungen
Dies ist eine Übersicht aller Cookies, die auf der Website verwendet werden. Sie haben die Möglichkeit, individuelle Cookie-Einstellungen vorzunehmen. Geben Sie einzelnen Cookies oder ganzen Gruppen Ihre Einwilligung. Essentielle Cookies lassen sich nicht deaktivieren.
Speichern
Abbrechen
Essenziell (1)
Essenzielle Cookies werden für die grundlegende Funktionalität der Website benötigt.
Cookies anzeigen