Enrico Stolzenburg, 2020

Joachim Völkner war mein Großonkel. Das ist zwar korrekt, klingt aber zu hochtrabend und nach Familiendynastie, passt deshalb nicht in mein Erinnern. Er heißt Achim, das passt besser, und ich bin zehn Jahre alt.

Die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Einer Zeit als im Prenzlauer Berg noch Arbeiter wohnen und die Straßenbäume sterben wegen undichter Gasleitungen. Wir sitzen in seiner winzigen Wohnung. Es ist dunkel, über dem Tisch baumelt von der Decke ein ausgestopfter Alligator im Miniaturformat neben Banknoten aus der Inflationszeit, Millionen und Milliarden. Wir trinken Pfefferminztee aus weißen Emaillebechern. Licht spendet nur eine Kerze. Bücher überall und dicht an dicht hängen Bilder an der Wand. Grafiken und Zeichnungen, daneben ein Plakat mit dem Porträt der Rosa Luxemburg. In der Ecke am Fenster ein Arbeitsort mit unfertigen Bildern. Alles in diesem Raum ist eng gepackt, und überbordend sind die Details. Wir tragen den gemeinsam verbrachten Tag zusammen und Achim erzählt selbsterfundene Märchen, er schafft uns fort in eine Welt der Spinner. Er sagt: „Kinder und Maler dürfen das.“

Am Nachmittag stehen wir im Museum für Deutsche Geschichte, Unter den Linden. 

Stundenlang kann ich mit ihm vor einem Objekt verharren, er hat die Geduld, die meine berufstätigen Eltern nicht haben können. Und er kann fabulieren, zeigen, staunen. Wir betrachten eine Schandmaske aus geschmiedetem Eisen, ein Folterinstrument, gestaltet wie ein Narrenkopf. Das grobe Gesicht verzerrt zu einem Grinsen mit herausgestreckter Zunge. Und Achim erzählt mit furchteinflößender Fantasie von den Schrecken dieser Maske. Vom großen Leid der Menschen, die zur Strafe damit auf einem Marktplatz stehen mußten, stunden- und tagelang, oder in einem Käfig vom Kirchturm baumelten bis die Krähen sie fraßen. Er beschreibt die Bedrängnis und Todesnähe der imaginierten Ketzer mit solcher Empathie, daß ich schaudere. Die Obszönität des Vorgangs, die Qualen, die Verantwortung der Mitmenschen, die flehende Bitte an alle, dieses Verbrechen zu beenden, die Obrigkeit, die es zulässt – alles stürzt in starken Bildern auf mich ein. 

Im Rückblick steckt für mich in diesen Ausflügen mit Achim die ganze Essenz einer humanistischen Erziehung. Seine unendliche Fähigkeit zur Vorstellung dessen, wie sich der Andere fühlt und Joachims tiefempfundene Anteilnahme am Leben anderer Menschen, egal ob in der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das hat mich tief geprägt, er hat mir gezeigt, den Dingen auf den Grund zu schauen.

Ein Jahr lang schickte er mir Kunstpostkarten, mit wechselnder Anrede: Bandito RicoRitter HeinrichPräsident StolzenburgKollege und Genosse… Auf der Rückseite jeweils ein kurzer Gruß mit einem Gedanken, der mir das Bild eröffnete: „Das ist ein reicher Knilch mit großen Puppen an der Wand. Aber vielleicht ist er gar kein Knilch und ganz nett. Wer weiß?“ „Vor 200 Jahren hättest Du so ausgesehen. Stell Dir diese Zeit mal vor!“ „Kannst Du Dir den als Kumpel vorstellen? Zeichne mal Deinen Freund (oder Bruder) oder sonstwas…“ „Hier wird einer ganz schön über’s Ohr gehauen, Ist aber selbst Schuld, wenn er es nicht merkt. Muß man überall mißtrauisch sein?“

Ich lernte mit seinen Augen zu sehen. Und ich lernte, die Welt zwischen den Zeilen zu lesen. Alles ist so, und alles kann anders sein. Joachim Völkner als Vorbild, als meine frühe moralische Instanz und als mein Ermunterer. Dabei: immer Lachen, immer Spinnen, immer Gruselgeschichten, aus Freude an der eigenen Gänsehaut. Und immer zugleich das Handfeste, nicht Träumer, sondern Realist ohne Illusionen über die Ambivalenz des Menschen. Er erzählte mir bei einer unserer Ausflüge, daß er seine Münzsammlung verkauft hat für das Motorrad, mit dem wir durch die Stadt kurvten, und eines Tages erwischte er jemanden, der, im Begriff die Maschine zu stehlen, schon am Schloß herumwerkelte. Ich, als Kind ganz erschrocken, fragte besorgt, was er denn mit dem Dieb gemacht hätte. Achim lachte bloß und sagte: „Na, den hab‘ ick in‘ Arsch jetreten!“

Einmal landeten wir auf umständlichem Weg, nach mehreren erfolglosen Versuchen in der Buchhandlung im Brechthaus der Chausseestraße. Ich wollte das Motorrad bewachen, und er kam zurück mit einem Geschenk für mich, das er mir flüsternd und mit verschwörerischer Geste wie ein Geheimagent aus dem Kino in meine Jackentasche steckte. Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Das zweite Buch, das er unterm Arm hatte – der Grund für die Länge unserer Fahrt durch die Stadt – legte er später meiner Mutter hin, knurrend und wie nebenbei. „Da, das is’n Buch. Kannste ja mal lesen, falls Zeit ist.“ Daß er dafür durch halb Berlin gejagt war, um es unter dem Ladentisch zu erstehen, wußte nur ich. Und spürte: mit den Erwachsenen hat er keine Geduld. Wir Kinder hingegen waren unschuldig. Wir waren Gefährten auf dem Weg. Und er war der Mentor, den er sich selbst wünschte als Kind.

Auf einer der Postkarten ist Bernhard Heisigs „Schwierigkeiten beim Suchen nach der Wahrheit“, und Joachim schreibt an mich als Ricowitzki, malt ein Selbstportrait auf die Rückseite mit Filzstift, sein Kopf in rot, schwitzend und angestrengt, mit geschlossenen Augen und darunter den Satz „Manchmal fällt mir nichts ein“, darüber ein Pfeil, der auf den Bildtitel zeigt. Diese Skizze, die beeindruckend genau das Porträt meines geliebten Großonkels zeigt, hat sich tief eingegraben und mich immer begleitet. Daß es schwierig sein könnte, ein Bild zu malen, daß es ein Ringen und Kämpfen sein kann, davon hatte ich als Kind ohne künstlerischen Hintergrund keinen Schimmer. Erst viel später, in meiner eigenen Arbeit, habe ich seinen Anspruch, und den Humor wie das Lachen über sich selbst wirklich verstanden. Und begriffen habe ich, wie sehr ich diesen Maßstab verinnerlicht hatte: Die Suche nach dem Inhalt und der Form, nicht nur in der Kunst, sondern in der Verwirklichung einer Gesellschaft, die eine sozialistische sein sollte. Jeder gibt, was er kann, jeder nimmt, was er braucht. Bei gleichzeitigem Verzicht auf Prunk und Ornament, auf Luxus und Komfort. Kein Konsum auf Kosten anderer! Kein materieller Gewinn, wenn er nicht gerecht verteilt wird. Achim, der ständige Querulant, der wie ein moderner Till Eulenspiegel mit verstellter Stimme bei Behörden anrief, als widerständiger Staatsbürger Eingaben an die Regierung und Briefe an die Staatsmedien schrieb, der mahnende Kritiker und lachende Komiker, kämpfte aus tiefster Überzeugung und Liebe zum Nächsten für eine Welt, in der ein Mensch des andern Helfer ist, nicht Ausbeuter noch Spitzel und die Erde eine Mutter, nicht des Menschen Untertan.

Die Aufnahme in den Verband Bildender Künstler ermöglichte ihm das freischaffende Arbeiten, befreite ihn vom staatlichen Zwang einer Tätigkeit nachzugehen, die ihm seine ohnehin knappe Zeit zum Malen noch mehr verkürzte. Mehr als er vielleicht war ich stolz darauf, daß er es als Autodidakt geschafft hatte. Dieses Gefühl: An dem kommt man nicht vorbei! Oder aus der inneren Perspektive formuliert: an mir kommt ihr nicht vorbei, und ich gehe auch nicht dahin zurück, wo ich herkomme, in die Ahnungslosigkeit. Ich kann malen, und ich gelobe, hart dafür zu arbeiten, ich will ja nichts geschenkt, ich will nur arbeiten dürfen. Selbstzweifel daran, ob das alles was taugt, habe ich sowieso jeden Tag, ich quäle mich selbst mehr, als ihr mich!

Seit er Verbandsmitglied war, bemühte sich Joachim mehrfach um eine Reiseerlaubnis nach Westberlin, die Museen zu besuchen. Olda Kokoschka, die Witwe des von ihm sehr verehrten Malers Oskar Kokoschka half mit einer persönlichen Einladung, und tatsächlich klappte es irgendwann. Ein Tagesvisum. „Vielleicht will Dich ja die Regierung loswerden, wahrscheinlich hoffen sie, daß Du drüben bleibst.“ – so gingen die Gespräche in unserer Familie. Wir lachten, weil wir wussten, der haut nicht ab, der kommt auf jeden Fall zurück.

Achim in der Charité, wir gehen ihn besuchen, wir haben Eis im Gepäck. In meiner Erinnerung ist es Spätsommer und er hat seine Operation hinter sich. Sein Kopf ist kahlgeschoren, unförmig, groteske Narben auf dem Schädel, die Augen sind riesig und sitzen tief, er kann nicht sprechen. Er löffelt Erdbeereis, oder füttern wir ihn? Er starrt mit panischem Gesicht aus dem Fenster. Meine Mutter fragt, ob er etwas sagen will, ob er uns hören kann, ob er weiß wer wir sind. Schmeckt Dir das Eis? Da wendet sich sein Kopf wieder zu uns, sein Blick ist weit, schwarz, hilflos, er schnauft mit rasender Anstrengung aus seinen großen Nasenlöchern. Und dann rollen große Tränen aus seinen Augen. 

Das ist meine letzte Begegnung mit ihm, jedenfalls erinnere ich mich so, daß es die letzte war. Er ist ja im Februar gestorben, sehr wahrscheinlich, daß wir uns danach noch gesehen haben, immer jedoch in verschiedenen Krankenhäusern. Auf seiner Beerdigung habe ich Gitarre gespielt. Ich war dreizehn und kein guter Spieler. Geweint habe ich nicht, der Tod war nicht real für mich. Daß alle anderen weinten, das war schlimm.

Joachim fehlt mir sehr. Wie eine warme Hand, die aus er der Kindheit herüberreicht ins Heute.

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